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Ein Bericht über eine Pflegefamilie

Wie Geschichte von Marcin und Marie weitergeht – Sieben Jahre später wieder zu Besuch bei Familie v. Grzymala

Vor ziemlich genau sieben Jahren stellte die NWZ die Wernigeröder Familie Grzymala vor, ein junges Ehepaar ohne leibliche Kinder, dafür mit zwei Adoptivkindern (Nr.  12/2013).  

Marcin ist mit dem Downsyndrom geboren; seine rußlanddeutsche Mutter traute sich nicht zu, dieses Kind aufzuziehen, und gab es deshalb zur Adoption frei.  Maries Mutter mußte ihr Kind, das aus einer außerehelichen Beziehung stammt, heimlich austragen und sofort nach der Geburt weggeben, sonst hätte sie um ihr Leben fürchten müssen und um das des Kindes auch – die streng islamische Familie hätte den Makel nicht geduldet.

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Bild: Gewieft geht der zwölfjährige Marcin mit seinem Tablet um und führt seine ganzen Spiele vor.  Dann wird es ernst: Die Besucherin von der Zeitung bekommt eine Runde „Mensch ärgere dich nicht“ angeboten und spielt natürlich mit.  Leider kann sie nicht verhindern, den begeisterten Rausschmeißer am Ende zu besiegen, haarscharf.  Das fröhliche Bürschchen kann darüber zum Glück nur lachen.  
Foto: Trosin

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Marie ist zu einem bildschönen Mädchen herangewachsen und freut sich sehr auf das Landesmusikgymnasium, das sie ab Herbst 2020 besuchen wird.

Für sie bedeutet aber der Schulbesuch eine besondere Anstrengung, wurde bei ihr doch ADHS, eine Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung, diagnostiziert.  Vater Manuel erklärt, daß das Mädchen Medikamente einnimmt, aber nur soviel, daß es gut über den Vormittag in der Schule kommt.  Marie soll nicht mehr als unbedingt nötig mit Chemie belastet werden – was für liebevolle Eltern! Dafür werden sie fast täglich an den Rand der Verzweif lung getrieben, wenn sich die typischen ADHS-Symptome zeigen.  Gegen die kann Marie nichts tun, außer sich, wenn es ihr wieder gut geht, aufrichtig bei den Eltern zu entschuldigen.  „Marie ist sehr intelligent und bringt eine sehr hohe Sozialkompetenz auf, und sie kann auch immer besser mit den Schüben umgehen“, sagt ihr Vater.

 Jetzt haben Beatrice und Manuel v.  Grzymala als Pf legeeltern ein weiteres Downsyndromkind bei sich aufgenommen.  „Es gibt keine netteren Menschen“, schwärmt der Pf legepapa.  „Sie können sich nicht verstellen, sind immer ehrlich, immer gut gelaunt, und sie schlafen durch, was für uns Eltern auch wichtig ist!“

Der semmelblonde André ist gerade ein Jahr alt und ein echter Harzer.  Seine Mutter hat schon mehrere Kinder und wäre mit diesem besonderen Baby schlichtweg überfordert gewesen.  Bei Familie Grzymala hingegen ist André bestens aufgehoben.  Sie wissen um die Besonderheiten eines „Downies“, und weil er genau dieselben Therapien braucht wie Marcin, belasten diese die Familie auch nicht besonders.  „Wir können ihm gut helfen“, sagt Pf legemama Beatrice, auf deren Arm der Kleine ruhig schläft.  Für Andrés Mutter dagegen wäre das eine riesige Belastung, unter der die ganze Familie leiden würde.  Zu ihr, die in der Nähe wohnt, besteht jedoch ein reger Kontakt, sie verfolgt die Entwicklung des Kindes, bekommt ständig Fotos und kleine Berichte, und einmal im Monat besucht sie ihr Söhnchen im Wernigeröder Rosenwinkel.  

Nicht mit jedem Pf legekind hatten die Grzymalas solch ein Glück.  Andrés Vorgänger war etwas jünger als Marie und hatte starke Verhaltensauffälligkeiten, wodurch es zu ständigen Konf likten mit den Geschwistern kam.  Dies belastete unter anderem die Familie so stark, daß für ihn eine neue Pf legefamilie gesucht werden mußte, so dramatisch beschreibt Manuel v.  Grzymala die Situation.  In der neuen Familie gibt es eine wesentlich ältere Tochter, die es versteht, ihren Pf legebruder in die Schranken zu weisen, und das bekommt ihm offensichtlich gut. 

Manuel v.  Grzymala ist ein großer Verfechter der Inklusion.  Er wollte, als Marcin ins Schulalter kam, unbedingt, daß der Junge in eine Regelschule eingeschult wird, konkret in die Diesterwegschule.  Auf breiter Front baute sich Widerstand dagegen auf.  So einen Fall hatte es in Wernigerode noch nicht gegeben, und den sollte es auch weiterhin nicht geben.  Für Marcin käme nur die Förderschule, also die Liv-Ullmann-Schule, in Frage.

Es hätte sicher auch schief gehen können, doch Manuel v.  Grzymala glaubte unerschütterlich daran, das Richtige zu tun, wenn er für Marcin um einen gleichberechtigten Platz in einer normalen Grundschule kämpfte, schließlich ist das internationales und deutsches Recht.  Und er sollte damit durchkommen.  Mit einer Schulbegleiterin an der Seite, meisterte der Junge die Schule, lernte mit ihrer Unterstützung Schreiben und Lesen und rechnet im Zahlenbereich bis 100, mit dem Taschenrechner sogar bis 1000.  In der Förderschule wäre er in diesem Alter nicht über den Bereich eins bis zwanzig hinausgekommen.  

Während unseren Gesprächs hantiert Marcin mit einem Zollstock, öffnet ihn fachmännisch und zeigt nach kurzem Zögern auf die von mir erfragte 27.

In der Schule kann er in vielen Dingen gut mithalten, und im Sport, vor allem im Laufen, ist er sogar einer der Besten.  Am liebsten würde der Sportlehrer ihm Zensuren geben, aber das ist für Marcin nicht vorgesehen.

Was der Junge für die Klasse bedeutet, erlebten die Lehrer an der Thomas-Müntzer-Schule mit Erstaunen.  Dort geht Marcin nämlich jetzt in die 5.  Klasse, und in der sind, bis auf die, die zum Gymnasium wechselten, auch alle seine Mitschüler.  Ein freundliches Zugeständnis an Marcin.  Nur zwei unbekannte Schüler sind dazugekommen.  „Die Lehrer waren baß erstaunt – eine so ruhige, angenehme Klasse haben sie noch nie erlebt!“ sagt Grzymala mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme.

Die Kinder haben gelernt, Rücksicht auf Marcin zu nehmen, sie verteidigen und beschützen ihn, wo es nötig ist – mit einem Wort: Das Zusammensein mit diesem besonderen Jungen hat auch sie zu besonderen Kindern gemacht.

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Bild: So ein großes Herz zeigt Marcin, wenn er jemanden ganz lieb hat.
Foto: Trosin

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Bis die Lehrer diese erstaunliche Erfahrung machen konnten, waren allerdings wieder diverse Hürden zu nehmen.  Vom Kreis bis zum Landesschulamt sah man nur eine Schulform für Marcin passend: die Förderschule Liv Ullmann.  Im Gespräch war auch die Oehrenfelder MarianneBuggenhagenSchule für Behinderte.  Es gab dann die Hoffnung, er könne in die Ganztagsschule Burgbreite gehen, aber die zerschlug sich bald wieder.  Dann unterbreitete Helfred Hauck, der Leiter der ThomasMüntzerSchule, von selbst das Angebot, Marcin aufzunehmen.  Später kamen ihm Bedenken ob der ungewöhnlichen Aufgabe, auf die er sich da einlassen wollte, und er sagte ab.  Doch dann, mitten in den Ferien, kam doch noch der erlösende Brief: Marcin darf an die Müntzerschule wechseln.  

Im Umgang mit seinen nicht behinderten Mitschülern strengt sich Marcin sehr an, deutlich zu sprechen, er will doch dazugehören, und sie sollen ihn verstehen.

Leicht ist das nicht, denn es gehört zum Downsyndrom, daß bei diesen Menschen der Sprechapparat anders ausbildet ist; die Zunge rutscht nach hinten, was das Sprechen erschwert oder ganz und gar verhindert.  Deshalb bekam Marcin, wie jetzt auch André, schon als Baby logopädische Förderung und wird sie vielleicht sein Leben lang brauchen.

Aber was macht das schon! Marcin darf leben, darf lieben und wird geliebt.  Neun von zehn Downsyndromkindern bekommen diese Chance nicht, sie werden abgetrieben.  Und irgendwann wird es diese wunderbaren, manchmal auch etwas wunderlichen Menschen vielleicht gar nicht mehr geben.

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Christine Trosin

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Neue Wernigeröder Zeitung 15/20